Führt zu viel Musik zu einschneidenden Veränderungen im Streaming-Business?
- Die Streamingdienste haben über 100 Millionen Song im Angebot und täglich sollen 100.000 neue hinzukommen
- Es wird bereits über eine Rückkehr des Gatekeepings diskutiert, also den Zugriff auf Streamingdienste einzuschränken
- Wie diese Einschränkungen aussehen könnten und wer daran Interesse hätte
Zuletzt wurden zwei erdrückende Zahlen publik, die einige Diskussionen angestoßen haben. Zum einen verkündete Apple Music, dass ihr Sortiment die Marke von 100 Millionen Songs erreicht hätte. Wenig später ließen auch Amazon Music und YouTube Music verlauten, diese Schallmauer durchbrochen zu haben.
Andererseits erklärten die CEOs von Universal Music und Warner Music, dass momentan täglich 100.000 neue Songs auf die DSPs geladen werden. In der ersten Hälfte 2018 sprach Spotify noch von täglich 20.000 Songs, im April 2019 dann von beinahe 40.000 und schließlich im Februar 2021 von den häufig herumgereichten 60.000 Tracks. Eineinhalb Jahre später soll nun also die 100k-Marke geknackt sein. Wieso die 60.000 täglichen Uploads und somit auch die 100.000 übertrieben sind, haben wir in diesem Artikel aufgezeigt.
Viel ungehörte Musik
Gehen wir aber trotzdem davon aus, dass tatsächlich jeden Tag 100.000 neue Songs hochgeladen werden und somit alle 10 Tage eine Million neuer Songs auf den DSPs zu finden ist. Pro Jahr würden also mehr als 35 Millionen neue Songs hinzukommen und innerhalb von drei Jahren wäre die aktuelle Zahl von 100 Millionen Songs schon verdoppelt. Bei dieser fast unvorstellbaren Menge von Musik ist es wenig erstaunlich, dass zahllose Releases selten bis nie gehört werden.
Wir posteten diesen Frühling bereits einige Zahlen dazu: Von den 8 Millionen Artists auf Spotify haben 6,27 Millionen weniger als 50 monatliche Hörer*innen. Von den damals 78,4 Millionen Tracks auf Spotify wurden 17,54 Millionen (22,37%) weniger als 100 Mal gestreamt und 38,69 Millionen erreichten mehr als 500 Streams, also mehr als die Hälfte aller verfügbaren Tracks blieb unter der 500er Marke.
Untergehen im steten Fluss der Musik
Natürlich ist es bei dieser enormen Anzahl an neuen Songs die hochgeladen werden extrem schwierig aufzufallen. Die noch größere Konkurrenz sind jedoch Katalog-Releases – ältere Songs haben einen stetig höheren Marktanteil. Die DSPs brüsten sich gerne mit ihrem großen Sortiment und die Majors wollen sich als diejenigen positionieren, die helfen aus dieser enormen Masse herauszustechen. Natürlich ist das nicht falsch, ist man bei einem Major wird man sicherlich ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit erhalten. Doch auch die großen Labels haben zunehmend Mühe Stars zu erschaffen und wirkliche Hits zu generieren, die nicht sofort wieder vergessen sind.
Soll das Gatekeeping zurückkehren?
Mit dem Streaming ist das Gatekeeping praktisch verschwunden und damit schoss auch die Anzahl Veröffentlichungen in die Höhe. Zum Vergleich: In den 60er Jahren wurden gerade mal 5.000 Alben releast – pro Jahr. Selbst wenn diese Alben im Schnitt 20 Songs gehabt hätten, wären dies nur 100.000 Songs und somit so viele, wie heute täglich releast werden.
Wir haben es also mit einer unüberschaubaren Menge an Musik zu tun und es wird von einigen Seiten, u.a. von den Majors, bereits gefordert, man solle Einschränkungen einführen. Natürlich denken sie dabei nicht an ihr eigenes Sortiment, sondern an Künstler*innen, die ihre Musik independent veröffentlichen. Ohne Zweifel schwingt da eine gewisse Arroganz seitens der Majors mit, wenn sie quasi das Bild vermitteln, DIY-Releases seien nur etwas, was die DSPs verstopft. So nannte der Sony Music CEO einen großen Teil der Uploads Treibgut. Der Universal-CEO äußerte die Befürchtung, die Hörer*innen würden von den Algorithmen immer häufiger zu minderwertigen Inhalten gelenkt. Michael Nash, EVP von Universal, nannte es schlicht Lärm und argumentiert damit, dass die wenigen Artists überhaupt mehr 50 monatliche Hörer*innen erreichen.
Die Majors handeln natürlich ganz nach ihren eigenen Interessen. Wiederum ist es nicht von der Hand zu weisen, dass es viel Musik auf den Streamingdiensten gibt, die man ohne Problem und vor allem ohne Qualitätsverlust entfernen könnte.
Menge an Musik ein Kostenproblem
Auch für die Streamingdienste ist diese enorme Masse an Songs zu einem Problem geworden, zumindest für alle, die nicht wie Google, Amazon oder Apple über ihre eigenen Cloudspeicher verfügen. MusicBusinessWorldwide hat ausgerechnet, dass Spotify in diesem Jahr bereits mindestens 130 Millionen USD für Cloud Computing Services ausgegeben hat, also für den Platz in der Cloud, wo alle diese Unmengen an Songs (und Podcasts und Audiobooks…) aufbewahrt werden.
Dies ist das eine Problem. Andererseits könnte es tatsächlich eintreffen, dass irgendwann selbst die besten Algorithmen diese Flut von neuen Releases nicht mehr bewältigen können und die Empfehlungen schwächeln. Bei beiden Punkten muss man sich zusätzlich fragen: Was geschieht, wenn täglich 300.000 Songs hochgeladen werden, etwa dann, wenn plötzlich viel mehr AI-generierte Musik erscheint oder platzintensiver Video-Content wichtiger wird?
Wie soll man das Sortiment verkleinern?
Bei 100 Millionen bestehenden und täglich 100.000 neuen Songs ist es natürlich unmöglich, das Sortiment manuell nach qualitativ minderwertigen Produkten abzuklopfen. Weiter besteht das Problem, dass minderwertige Qualität in vielen Fällen Ansichtssache ist, trashige Soundqualität kann beispielsweise auch ein Stilmittel sein.
Schlussendlich läuft es wohl darauf hinaus es mit Zahlen zu lösen: Erreicht ein Song nach z.B. 6 Monaten nicht mindestens 1.000 Streams, wird der von der Plattform entfernt oder der Artist muss dafür bezahlen, dass er online bleibt.
Viel minderwertige Musik würde damit verschwinden und für die DSPs würde sich dadurch sogar eine zukünftige Einnahmequelle auftun.
Auf der anderen Seite kommt natürlich die Frage, ob es fair ist alleine nach Zahlen zu urteilen. Gerade für Artists, die in eher kleinen Märkten aktiv sind und dann zusätzlich vielleicht noch in einem Nischengenre, ist es viel schwieriger diese Marke zu erreichen. Somit ist davon auszugehen, dass auch ziemlich viel gute Musik verschwinden würde. Für die DSPs und womöglich auch ihre Partner käme ein nicht zu unterschätzender administrativer Aufwand hinzu.
Viele offene Fragen
Die Frage ist aber vor allem: Wer würde den ersten Schritt machen? Für Spotify wäre es aufgrund der enormen Cloud-Kosten sicherlich von Interesse. Aber wieso sollten die Tech-Giganten Apple, Amazon und Google mitziehen, wenn sie doch die 100 Millionen Songs noch als Meilenstein gefeiert haben und über eigene Clouds verfügen?
Hätte Spotify dann einen Nachteil, weil sie viel weniger Musik im Angebot haben? Sollten die DSPs in eine weitere Verfeinerung ihrer Algorithmen investieren, um rassistische Inhalte und sonstigen Abschaum zu filtern, aber auch eine Vorselektion zu treffen, welche Uploads sonst noch entfernt werden könnten? Müsste zusätzlich die Kuratierung der Inhalte, und zwar nicht nur durch Algorithmen, sondern primär durch Menschen, weiter gestärkt werden, um den Hörer*innen Leute zur Seite zu stellen, die sie durch den Dschungel von Releases führen? Aber gibt es sowohl bei Algorithmen wie auch bei Kuratierung nicht sofort wieder Probleme mit der Transparenz? Und ist nicht vor allem Kuratierung auch eine Form des Gatekeeping? Wir sehen, es ist kompliziert und einfache Lösungen gibt es keine.